«Es ist wichtig, vorausschauend zu handeln, bevor das Problem grössere Ausmasse annimmt.»
Nov. 2012Internet und Gefährdung
Interview mit Barbara Schmid-Federer und Erika Forster-Vannini. Wie gefährlich ist das Internet? Und wie soll man junge Menschen davor schützen, dass sie abhängig von elektronischen Medien werden? Mit zwei Postulaten verlangten die Nationalrätin Barbara Schmid-Federer und die Ständerätin Erika Forster-Vannini vom Bundesrat Antworten auf diese Fragen (siehe Artikel Seite 5). Nun liegt ein Expertenbericht vor, und «spectra» traf die beiden Politikerinnen zum Gespräch.
spectra: Wie viel Zeit verbringen Sie im Internet?
Erika Forster-Vannini: Mittlerweile sind es wohl vier bis fünf Stunden pro Tag.
Barbara Schmid-Federer: Bei mir ist es sehr viel mehr. Ich sitze morgens etwa von 8 bis 13 Uhr am Internet und nach dem Mittag nochmals etwa bis 19 Uhr. Das hat damit zu tun, dass wir auch im Nationalratssaal an unseren Computern arbeiten.
Sie beide haben 2009 ein Postulat zur Abklärung des Gefährdungspotenzials von Internet und Onlinespielen, insbesondere bei Jugendlichen, eingereicht. Was hat Sie zu diesen Postulaten veranlasst – ein persönliches Erlebnis?
Forster-Vannini: Bereits 2007 habe ich eine Interpellation eingereicht mit dem Titel «Bildschirmsucht – vorausschauend handeln». Ich bin Präsidentin der Stiftung Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienste im Kanton St. Gallen und erlebe ganz direkt die Auswirkungen dieser Sucht. Wir haben festgestellt, dass die problematische Internetnutzung zwar immer noch relativ wenig verbreitet ist, aber rasch zunimmt. Für mich ist es wichtig, dass vorausschauend gehandelt wird. Ich erinnere mich an eine ähnliche Problematik im Zusammenhang mit dem Drogenmissbrauch. Damals hat man viel zu lange nichts unternommen, weil man der Meinung war, alles unter Kontrolle zu haben. Plötzlich ist das Drogenproblem eskaliert, und niemand war darauf vorbereitet. Für mich war diese Erfahrung ausschlaggebend für die Interpellation und das Postulat.
Schmid-Federer: Als meine Söhne noch in der Primarschule waren, habe ich einen Jungen an einem Geburtstagsfest erlebt, der die ganze Zeit abseits sass, Gameboy spielte und nicht mehr in der Lage war, sich sozial zu integrieren. Das hat mich zum ersten Mal aufgerüttelt. Jetzt sind meine Söhne im Gymnasium, und da gibt es einige Schüler, die internetsüchtig sind. Ich habe den Verdacht, dass dieses Problem zugenommen hat.
Forster-Vannini: Als meine Kinder zur Schule gingen, kam das Internet gerade erst auf. Aber ich erlebe jetzt mit meinen Grosskindern, wie schon Vierjährige total fasziniert sind davon. Das ist nichts Schlechtes. Die Frage ist nur, wann die Faszination in die Sucht kippt.
Es gibt auch Teenager, die sich tagelang hinter ihren Büchern verschanzen und sich komplett abkapseln. Wie schätzen Sie das Problem der «Onlinesucht» unter Jugendlichen ein: Ist es einfach ein Symptom einer Entwicklungsphase, in der man etwas zu intensiv betreibt, oder wittern Sie Gefahren in der Dimension der Drogenproblematik der 1980er-Jahre?
Forster-Vannini: Internet- und Drogensucht sind nicht direkt vergleichbar. Mit der Parallele zur Drogenproblematik wollte ich nur aufzeigen, dass man ein Phänomen früh genug erkennen und gegebenenfalls Massnahmen ergreifen muss. Beim Drogenproblem hat man zu spät reagiert und wurde auf dem falschen Fuss erwischt. Beim Internet wird das hoffentlich nicht mehr passieren. Was das exzessive Lesen betrifft: Das ist in meine Augen nicht zu vergleichen. In Online-Games hält man sich oft in völlig irrealen Welten auf.
«Internet ist nichts Schlechtes. Die Frage ist nur, wann die Faszination in die Sucht kippt.»
Erika Forster-Vannini
Bei exzessiver Nutzung dieser Spiele besteht die Gefahr, dass die Jugendlichen zwischen realer und virtueller Welt nicht mehr unterscheiden, was zu psychischen Beschwerden führen kann.
Schmid-Federer: Für mich liegt der Unterschied darin, dass das Lesen bei mir örtlich beschränkt ist. Meine Söhne und ihre Schulkollegen haben immer und überall ein Gerät mit einem Bildschirm zur Hand – sogar während des Unterrichts. So ist das Suchtpotenzial natürlich viel grösser.
Das Bundesamt für Gesundheit hat kürzlich den geforderten Expertenbericht vorgelegt. Entsprechen die Resultate des Berichts Ihren Erwartungen?
Forster-Vannini: Zunächst habe ich mir die Frage gestellt, ob pro Tag zwei Stunden Surfen im Internet viel oder wenig sind. Aber das ist ja nur ein Durchschnittswert. Viele Jugendliche halten sich kaum in Internet auf, andere aber sehr häufig und lange. Insgesamt bin ich mit dem Bericht insofern zufrieden, als er neben der Bestandesaufnahme auch einen Überblick über die aktuellen Ansätze für Prävention und Behandlung exzessiver Internetnutzung enthält. Das zeigt, dass man sich des Problems bewusst ist. Man wird die Entwicklung beobachten, die Datengrundlage und die Prävention verbessern.
«Ich habe mich gefreut, dass die Daten- und Wissenslücken erkannt worden sind und dass man weiss, wie dringend man diese schliessen muss.»
Barbara Schmid-Federer
Das ist eine gute Ausgangslage. Ich gehe aber davon aus, dass es noch weitere Massnahmen brauchen wird.
Schmid-Federer: Ich war schon positiv überrascht, als der Bundesrat unser Postulat angenommen hatte. Was den Bericht an sich betrifft, habe ich mich gefreut, dass die Daten- und Wissenslücken erkannt worden sind und dass man weiss, wie dringend man diese schliessen muss. Das Erkennen der Tatsache allein bringt uns aber nicht weiter. Meine Sorge ist, dass die dringend nötigen Studien nicht gemacht werden. Ohne dieses Material wird es aber schwierig, die geforderten Massnahmen umzusetzen. Ansonsten kann ich alle Empfehlungen des Berichts tel quel unterschreiben.
Der Bundesrat will die Medienkompetenz sowie die Früherkennung und Frühintervention fördern. Reicht Ihnen das als Massnahme oder haben Sie sich mehr erhofft – vielleicht sogar regulatorische Massnahmen?
Forster-Vannini: Nein, derzeit würde ich noch nicht regulatorisch einschreiten, das wäre eine zu weit gehende Massnahme. Förderung der Medienkompetenz sowie Früherkennnung und Frühintervention sind weit sinnvoller. Die Frage ist, was das konkret beinhaltet. Wobei wir ja heute nicht mehr bei null anfangen müssen und auf Erfahrungen in anderen Suchtbereichen zurückgreifen können. Das grösste Problem scheint mir, dass die Präventionsarbeit einmal mehr auf die Schule respektive die Lehrerschaft zurückfallen wird – nebst den Eltern natürlich.
Sie möchten den Schulen also nicht noch mehr Aufgaben aufbürden?
Forster-Vannini: Einerseits nein, denn die Schule muss schon genug leisten. Andererseits ist die Schule natürlich prädestiniert dazu, die Themen Medienkonsum, Internet und Sucht zu thematisieren. Wo sonst erreicht man die Jugendlichen flächendeckend? Das ist ein Dilemma, doch letztlich gibt es wohl nur den Weg über die Schule.
Schmid-Federer: Ich bin eine grosse Befürworterin der Förderung der Medienkompetenz an der Schule. Meines Wissens sind die Fachleute aus aller Welt einhellig der Meinung, dass das der einzige Weg ist, etwas zu erreichen. Ich bin auch eine grosse Anhängerin dieser Zug-Metapher. Demnach ist die Schule ein Zug mit verschiedenen Waggons, sprich verschiedenen Fächern.
«Die Schule ist natürlich prädestiniert dazu, die Themen Medienkonsum, Internet und Sucht zu
thematisieren.»
Erika Forster-Vannini
Die Medienerziehung wäre nun nicht einfach ein weiterer Waggon, sondern der Zug bewegt sich durch die Medienerziehung in eine andere Richtung. Medienkompetenz muss also integral durch alle Fächer hindurch vermittelt werden, nicht separat als Fach. Es braucht auch mehr Medienkompetenz seitens der Lehrer. Einige wehren sich noch dagegen, viele sind sich der Wichtigkeit des Themas aber bewusst. Ein grosses Wissensdefizit besteht auch bei den Eltern. Hier sehe ich fast keine andere Möglichkeit, als obligatorische Elternabende zum Thema Medienkompetenz einzuführen. Klar ist, dass die Eltern selbst Verantwortung für das Handeln ihrer Kinder übernehmen müssen. Aber sie müssen zuerst verstehen, worum es tatsächlich geht. Ich sehe das bei mir selbst: Ich hinke immer mindestens ein paar Monate hinter dem medialen Alltag meiner Söhne hinterher.
Forster-Vannini: Das kann ich bestätigen. Selbst meine kleinen Enkel sind mir in gewissen Dingen schon voraus. Die technische Kompetenz vieler Schüler ist viel grösser als die ihrer Lehrer. Die Lehrer müssen entsprechend geschult werden, um Medienkompetenz glaubwürdig vermitteln zu können.
Die Eltern müssen bei der Vermittlung von Medienkompetenz also auch ihren Beitrag leisten. Nun schauen Erwachsene statistisch gesehen länger fern, als ihre Kinder online sind ...
Schmid-Federer: Bei der Medienkompetenz geht es ja nicht nur um Fragen der Nutzungsdauer, sondern auch um den Umgang mit den Inhalten, die die Jugendlichen im Internet finden. Hier haben sich verglichen mit früher ganz neue Dimensionen aufgetan. Gibt man auf Google das Suchwort «Sex» ein, kriegt man sofort Bilder, die Vierzehnjährige bestimmt nicht sehen sollten. Kinder und Jugendliche werden also ständig mit nicht altersgerechten Inhalten konfrontiert.
«Jugendliche geben auf den Social Media viel zu viel von sich preis und sind sich gar nicht bewusst, was ihre Offenheit für Folgen haben kann.»
Erika Forster-Vannini
Das können wir nur bedingt verhindern. Die Hauptaufgabe der Eltern bei der Medienerziehung besteht meines Erachtens darin, ein Klima zu schaffen, in dem die Kinder über ihre Erfahrungen reden und sie einordnen können.
Pornografie ist ein Beispiel der Gefährdung aus dem Internet. Gibt es andere gefährdende Inhalte?
Schmid-Federer: Cybermobbing in den Social Media ist ein grosses Problem. Diese Art von Mobbing kann weit schlimmere Traumata auslösen als das Mobbing auf dem Pausenplatz.
Forster-Vannini: Meines Erachtens geben Jugendliche auf den Social Media viel zu viel von sich preis. Sie sind sich gar nicht bewusst, was ihre Offenheit für Folgen haben kann. Auch hier muss man mit Medienkompetenz die Jugendlichen vor sich selber schützen.
Welche Rolle werden die Onlinemedien bei den heutigen Jugendlichen in zwanzig Jahren spielen?
Forster-Vannini: Onlinemedien sind aus dem Leben nicht mehr wegzudenken. Deshalb ist es auch so wichtig, dass rechtzeitig auf die problematische Nutzung des Mediums aufmerksam gemacht wird. Die Gefahr besteht ja nicht beim beruflichen oder schulischen Gebrauch des Internets, sondern erst, wenn das Internet auch in der Freizeit exzessiv genutzt wird und damit die Kontrolle über die Onlinezeiten verloren geht.
Wir haben bis jetzt nur über den Handlungsbedarf auf der Seite der Nutzer gesprochen. Muss man nicht auch die Anbieter der Onlineinhalte strenger in die Pflicht nehmen?
Schmid-Federer: Derzeit wird zu diesem Thema eine weltweite Repressionsmaschinerie in Gang gesetzt. Verbote sind sicher punktuell sinnvoll, aber keine Allheilmittel. Ein positiver Effekt ist, dass sich immer mehr Provider freiwillig an Schutzmassnahmen beteiligen, um sich vor der Justiz zu schützen. Das ist eine gute Entwicklung. Je mehr sich die Branche selbst reguliert, desto besser.Natürlich bestehen schon Gesetze zum Internetgebrauch, zum Beispiel Altersbeschränkungen für Pornografie und welche Art von Pornografie legal und welche illegal ist. Diese Gesetze sind längst geschrieben. Man hat aber verpasst, Mittel und Wege zu finden, diese auch auf den neuen Medien durchzusetzen, was eine riesige Herausforderung darstellt. Sonst gäbe es wohl nicht weltweit 100 000 Internetseiten mit Kinderpornografie.
Forster-Vannini: Mit Verboten allein kommen wir nicht weiter. Sie sind für mich das letzte Mittel. Wir müssen die Jugendlichen mit Kompetenz wappnen, damit sie mit problematischen Inhalten umzugehen wissen.
Was wollen Sie politisch beim Thema Internet noch erreichen?
Schmid-Federer: Ich werde bestimmt nicht eher ruhen, bis das Thema Medienkompetenz in den Schulen verankert ist. Natürlich ist das Schulwesen kantonal geregelt, auf Bundesebene haben wir nur bedingt eine Handhabe. Ein zweites wichtiges Thema ist für mich das Cybermobbing. Hier gibt es noch sehr viel zu tun und hier sind noch nicht mal alle Gesetze geschrieben. Ein drittes Thema ist die verdeckte Ermittlung der Strafverfolgungsbehörden. Im «realen Leben» bin ich kein Fan solcher Massnahmen, aber im Internet sind Fahnder auf effiziente Möglichkeiten der verdeckten Ermittlung angewiesen.
Forster-Vannini: Ich bin froh, dass Frau Schmid hier weiterkämpft. Auch ich werde mich weiter auf diesem Gebiet engagieren, wenn auch nicht mehr im Parlament. Aber das Thema ist mir einfach zu wichtig, als dass ich mich zufrieden zurücklehnen könnte.
Unsere Gesprächspartnerinnen
Erika Forster-Vannini (FDP)
Ständerätin für den Kanton St. Gallen von 1995 bis 2011, geboren 1944, Mutter von 4 Kindern.
Barbara Schmid-Federer (CVP)
Nationalrätin aus dem Kanton Zürich seit 2007, geboren 1965, Mutter von 2 Kindern.